15.5.17

Dieser Beitrag erschien vor längerer Zeit in den Netznotizen.com und ist inzwischen in die Gesellschaftskolumne umgezogen. Anläßlich eines Zeitungsartikels und der deutsch-deutschen Vereinigung geht es darum, wie das Leben in der DDR, aber auch in der alten Bundesrepublik den eigenen Kindern vermittelt wird: 

Gerade lese ich den Artikel »Sie sollen Bescheid wissen« im Internet-Portal der ›Zeit‹. Die Autorin Jeannette Otto schreibt über das Thema, wie wir die deutsch-deutsche Geschichte und das Leben in der DDR und in der alten BRD heute Jugendlichen, Kindern und Enkelkindern vermitteln. Diese Frage beschäftigt mich schon seit längerem, unter anderem, weil ich junge Menschen, die »etwas mit Medien machen« möchten, ausbilde. Die jüngeren von ihnen, Jahrgang 1995 oder später, wissen außer ein paar auswendig gelernten Daten meist nichts oder nur wenig über die deutsche Teilung und das Leben in der DDR oder in der alten BRD bzw. im alten West-Berlin. Woher auch? Es scheint nicht wichtig zu sein in ihrer Lebenswelt. Die etwas älteren, oft deutlich über 20 und meist in einer Berufsausbildung, haben sich je nach familiärer Prägung ihr eigenes Urteil über die DDR gebildet. Selbst erlebt haben sie diese Zeit jedoch nicht bewußt. Meist sind sie sogar erst nach der Wende geboren. Manchmal ist das Interesse an der Ost-West-Geschichte nicht groß, weil für die eigene Person als unbedeutend empfunden wird. Haben die jungen Menschen jedoch ausgeprägten DDR-Bezug, so ist der Tenor recht einheitlich: »Früher war alles besser war, keiner war arbeitslos und alles war sozialer«. Typische Bewertungen, wie man sie hier in Berlin immer wieder hört, meist in den Ost-Bezirken. Mehr oder weniger unreflektiert werden sie von der 45plus-Elterngeneration übernommen. Auch im ausgangs genannten Zeitungsartikel ist von dieser geschönten Elternperspektive des Lebens im Sozialismus die Rede. Die Autorin schreibt, Forscher hätten herausgefunden, »dass das Image der DDR bei Schülern immer negativer werde, je länger sie den SED-Staat im Unterricht behandelten.« Die zentrale Frage wird aufgeworfen, was wir nun selbst unseren Kindern vom Leben in der DDR – oder je nach Herkunft auch von der alten BRD – vermitteln sollen? Und vor allem wie?

Stasi-Gefängnis, verkürzte Wirklichkeit

Mich beunruhigt die herausgehobene Thematisierung der Zeit der Deutschen Teilung im Schulunterricht etwas. Eine typische Stellvertreter-Überbewertung. In heutigen Lehrplänen heißt der Themenkomplex »Zeit der SED-Diktatur«. Eine deutliche Wertung ist aus diesem Begriff herauszulesen. Der bundesdeutsche Schüler soll zu der Einsicht kommen, dass er im guten und vor allem richtigen System lebt – und das geht mit plakativen Formulierungen und der Fokussierung auf beeindruckende Einzelaspekte (wie die Stasi) natürlich gut. Reihenweise werden Schulklassen zu Exkursionen ins Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen oder ins Dokumentationszentrum Berliner Mauer an der Bernauer Straße gekarrt und ausgesuchte Zeitzeugen werden dazu eingeladen. Die DDR wird oft auf einen Spitzelstaat reduziert, der seine Leute einsperrt und die alte BRD auf das Wirtschaftswunder mit dem Erfolgsmodell der sozialen Marktwirtschaft. Ganz so schwarz-weiß war es nun nicht. Verkürzte Wirklichkeiten. Ist das die wünschenswerte zeithistorische Alphabetisierung der Kinder? Wohl eher nicht. Genauso wenig sind es andererseits die latenten Sticheleien von Lehrern, die schon zu DDR-Zeiten unterrichteten, gegen das heute westdeutsch geprägte Bildungssystem. So oder so, ein schwieriges Terrain. Wie soll man dieses polare Thema Kindern und Jugendlichen vermitteln? Ein Thema, in dem wir allesamt – Lehrer und ebenso die über den »zeithistorischen Analphabetismus« klagenden Historiker – persönlich viel zu verstrickt sind und zeitlich wie mental nicht genügend Abstand haben. Sehr interessant finde ich übrigens, welche Lehrkräfte mit ihren Klassen Dauergäste im Hohenschönhausener Stasi-Gefängnis sind und mit welchen Eindrücken, Infos und Ideen die Schüler zurückkommen. Einige kenne ich persönlich. Freilich sind sie kein repräsentativer Querschnitt, aber ich lehne mich einmal weit aus dem Fenster und behaupte, es sind oft die im tiefen Westdeutschland aufgewachsenen Lehrkräfte, ohne persönlichen oder familiären Bezug zur DDR, oder es sind Ost-West-Übergesiedelte mit schlimmsten Erfahrungen. Nur, sind beides die geeigneten Personen für eine zeithistorische Alphabetisierung, die Schüler zum Tiefergraben, mehr Erforschen, Vergleichen und sich ein Urteil bilden anspornt?

Persönliche und individuelle Geschichts-Scheiben

Die alte BRD und die DDR, das war die Zeit, in der die heute 50jährigen aufgewachsen sind. Wir, die jetzt maßgeblich die Geschicke der Welt bestimmen. Jeder auf seine Art und mit seinen individuellen Erfahrungen, immer noch fast ohne Abstand zu dieser Zeit. Die Schule gibt sich nun den Anstrich, objektiv zu sein, und das erwartet man das auch von dieser Institution. Anhand gesicherter Erkenntnisse und ausgewählter, subjektiver Versatzstücke sollen Schüler zu einem eigenen Urteil kommen. Und genau in dieser Auswahl liegt das Problem. Sehr vieles über das Leben in der alten BRD und der DDR ist nämlich richtig. Für die einen ist der Mauerbau mit schlimmer familiärer Trennung verbunden, für die anderen mit einem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aufatmen, weil nicht ständig Fachkräfte in die BRD abwanderten und Ruhe einkehrte in die Gesellschaft der DDR. Für die einen bestand die DDR aus Spießrutenlaufen, Eingesperrtsein im Frauengefängnis, Freikauf in die BRD und Erfolg im westdeutschen Kapitalismus. Für die anderen aus unbeschwertem Aufwachsen im Haus am See in der Ost-Berliner Nomenklatura-Familie. Und für die einen bestand die alte BRD aus Wirtschaftswunder und Aufsteigerbiographie im Zuge der Bildungsexpansion der 60er, Führungsposten und schnellem Wohlstand. Für die anderen bestand sie noch 1970 aus latenter Stigmatisierung als Kind einer Arme-Leute-Familie, mit vom Lehrer initiiertem Besuch des Gesundheitsamtes, zwecks Prüfung, ob die Familie asozial ist und allerlei Benachteiligung bis in die 80er. Alles, was wir und unsere Familien erlebt haben in den letzten 50 Jahren und was uns noch beschäftigt, manchmal mehr, als uns lieb ist. Sehr persönliche und individuelle Geschichts-Scheiben. Alle Teile des Ganzen. Wo ist jetzt der zeithistorische Kanon für den Geschichtsunterricht der Kinder und Enkel? – Es gibt ihn nicht, er lässt sich schwer definieren. Die Exkursion zum Stasi-Knast Hohenschönhausen, Mauer, Selbstschussanlagen, die BRD als Wirtschaftswunderland mit Wohlstand für alle und Sozialamt, das ist alles richtig, jedoch eben nur die halbe Wahrheit.

Erzählen Sie Ihren Kindern Ihre Geschichten

Aber machen Sie keine Zeitzeugen-Wissenschaft daraus. Jedes aufgeweckte Kind interessiert sich dafür, was die Eltern früher gemacht haben. Und in diesen Erzählungen (und Weglassungen) wird für Kinder sehr schnell klar, wer die Guten sind und wer die Bösen sind. Was für die Eltern wichtig war, und was eben unwichtig. Wenn Kinder danach fragen, haben sie ein Recht auf eine ehrliche, altersgerecht-ungeschönte Antwort. Die sollten wir ihnen geben – und sie nicht Lehrkräften, bewusst ausgewählten Zeitzeugen, Geschichtsbüchern und Gedenkstätten überlassen. Unsere Erlebnisse sind immer ein Teil der Geschichte und Identität unserer Kinder.

Problematisch finde ich nach wie vor die organisierten Befragungen selektiv ausgesuchter Zeitzeugen im schulischen Kontext, mit denen intendiert wird, dass Schüler ganz bestimmte Sichtweisen übernehmen sollen. Zum Beispiel die Erkenntnis, wie schlimm der DDR-Stasi-Spitzelstaat war oder wie schlimm es Zwangsarbeiter im NS-Deutschland hatten. Beides stimmt ja für sich genommen, verkürzt leider nur die Wirklichkeit auf einzelne Aspekte. Der Grad zur Infiltration mit gerade angesagten und sogenannten politisch korrekten Bewertungen ist recht schmal.

Mutti und Vati »erzählen vom Krieg«, — ungeniert und ohne political correctness. 

Tun Sie es!

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